By Isabel Cagala

 

  1. Wie würden Sie die USA in drei Stichworten beschreiben?
    Groß, widersprüchlich und aufregend.
  2. Bester US-Präsident?
    Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt.
  3. Sie fahren mit dem Auto von San Francisco nach Los Angeles, welche Musik begleitet Sie?
    Ich würde wahrscheinlich mit San Francisco Bay Blues von Eric Clapton loslegen. Ich weiß nicht, ob ich damit bis nach L.A. käme, aber das wäre meine Musikrichtung für eine solche Reise. Zwischendurch würde ich nochmal das Buch Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck rausnehmen und in den Pausen darin lesen.
  4. Bei welchem Ereignis US-amerikanischer Geschichte wären Sie gerne dabei gewesen? Bei der Amtseinführung von Joe Biden, da dies eine große Erleichterung war.
  5. Ihr Lieblingsort in den USA?
    Da ich die USA nicht komplett kenne, laufe ich natürlich Gefahr etwas Falsches zu sagen. Aber mir hat Oregon am meisten imponiert. Dort oben an der Küste, in Nachbarschaft zu Washington State. Diese Region fand ich auch aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit ganz anders als das, was ich zuvor in den USA gesehen hatte.
  6. Der amerikanische Traum…
    …ist leider in der Realität für viele Amerikanerinnen und Amerikaner nicht mehr realisierbar. Ich hoffe, dass sich das wieder ändert.
  7. Welches Werk US-amerikanischer Literatur hat Sie am meisten beeindruckt?
    Upton Sinclair, den ich zu meinen Studienzeiten intensiv gelesen habe.
  8. Mit welchem berühmten noch lebenden bzw. bereits verstorbenen US-Amerikaner würden Sie gerne ein Bier trinken gehen?
    Von den bereits Verstorbenen würde ich gerne mit Sammy Davis Jr. ein Bier trinken gehen. Und unter den Lebenden würde ich den italienischen Friseur nochmal treffen, den ich 2018 in West Virginia kennenlernte. Er war ein totaler Trump-Fan, mit dem man aber auch gut Bier trinken konnte. Ich würde gerne seine Meinung jetzt nochmal hören.
  9. Was kann Deutschland von den USA lernen?
    Wir können uns etwas von dem Optimismus, der der amerikanischen Gesellschaft noch immer innewohnt, abschauen. Er zeigt sich insbesondere in der Flexibilität und Dynamik der amerikanischen Wirtschaft. Das ist etwas, was wir lernen oder gut gebrauchen können.
  10. Was können die USA von Deutschland lernen?
    Die USA können von uns lernen, wie man einen ordentlichen Sozialstaat aufbaut, der die Grundbedürfnisse nach sozialer Sicherheit der Menschen erfüllt. Ich glaube, dass die Leistungsbereitschaft von Menschen steigt, wenn sie sich nicht täglich Gedanken darüber machen müssen, was passiert, wenn sie krank oder alt werden oder in Not geraten.
  11. Drei gute Gründe sich für eine politische Laufbahn zu entscheiden?
    Das Erste, sich für einen demokratischen Staat einzusetzen, weil die Selbstverständlichkeit, mit der wir glauben, dass die Demokratie gottgegeben sei, ein großer Irrtum ist. Demokratie lebt von Engagement und das kann nicht immer wer anders übernehmen, das muss man auch selber machen. Das Zweite, es macht auch einfach Freude und Spaß Dinge gestalten und zum Besseren wenden zu können. Und das Dritte: man muss lernen auch mit schwierigen Zeiten umgehen zu können, auch mit ganz schwierigen Zeiten. Frei nach dem Motto: Du musst das Leben nehmen, wie es ist. Aber Du darfst es nicht so lassen.
  12. Was werden die drei großen politischen Herausforderungen der nachfolgenden Generation sein?
    Eine große Herausforderung liegt auf der Hand – es geht darum den Krieg in der Ukraine so zu beenden, dass wenigstens eine Welt ohne die ständige Bedrohung durch Waffen oder ein Wiederausbrechen des Krieges möglich wird. Ich glaube, dass es insgesamt in der Welt darum geht, wieder zurückzufinden zu einer Weltordnung in der auf Grundlage verlässlicher Verabredungen die Konfliktbewältigung ohne Gewalt möglich ist. Zudem wird es auch in Zukunft um die Bewältigung der großen Weltprobleme wie Klimaschutz, Weltgesundheit, Hunger und bitterster Armut gehen. Auch gilt es die zunehmend weit verbreitete Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen zu begrenzen. Das sind die großen Herausforderungen. Wir werden wahrscheinlich eher ein Jahrzehnt der Unsicherheit vor uns haben. Dieses gut zu überstehen und den Optimismus nicht zu verlieren, dass man die Welt zum Besseren wenden kann, das ist die wichtigste Aufgabe der kommenden Generation.
  13. Mit Blick auf den Klimawandel: Ist die Rückkehr zur Kernenergie eine Lösung?
    Solange wir nicht wissen, wohin mit den radioaktiven Abfällen, wäre die Rückkehr zur Kernenergie eine unverantwortliche Lösung. Es gibt weltweit keine Endlager für radioaktive Abfälle. Zweitens ist Kernenergie die teuerste Form der Stromproduktion. Ich wüsste daher nicht, warum man zur Kernenergie zurückkehren sollte.
  14. Ihr Rat an junge politische Talente?
    Mein Rat wäre Politik als das zu verstehen, was sie im Kern ist: die Zusammenarbeit mit Menschen. Politik ist nicht Parlament, oder Regierung. Politik ist auch nicht Administration und Gesetzgebung und schon gar nicht Karriere. Politik ist der Wunsch und die Zuneigung zu anderen Menschen, auch wenn diese ganz anders sind als man selbst. Man muss neugierig sein auf das Leben anderer – das ist die wichtigste Voraussetzung für Politiker. Wenn einem das Leben anderer egal ist, hat man in der Politik nichts zu suchen. Und das Zweite ist: man muss mit offenen Augen durch die Welt gehen. Das sind die beiden Dinge, die zählen. Den Rest kann man lernen, der Rest ist Handwerk. Man muss nicht studiert haben, das ist alles nicht wichtig. Wichtig ist, dass man sich für Menschen interessiert und neugierig ist. Und ganz wichtig ist: man muss irgendeine andere berufliche Absicherung haben, damit man nicht von der Politik abhängig wird.
  15. Was waren die herausforderndsten Stunden während Ihrer politischen Laufbahn?
    Die schwierigsten Momente waren die, wenn ich irgendwo in der Welt unterwegs war und das unfassbare Elend vor Augen hatte, dass es auf dieser Erde gibt. Und wenn man am Ende des Tages trotz aller Anstrengungen doch wusste, dass man nicht ausreichend helfen kann. Selbst wenn man etwas gemacht hat, es war immer zu wenig. Das waren nach meinem Empfinden die schwierigsten Momente. Vor einem Flüchtlingslager mit 150.000 Menschen in Somalia zu stehen, die auf nackter Erde sitzen und dort ihre Kleinkinder versorgen müssen und die auf ein ganz bisschen Wasser und die Hilfe der Vereinten Nationen angewiesen sind. Oder die Rohingya, die aus Bangladesch geflohen sind und sich zu Hunderttausenden in fürchterlichen Lebensverhältnissen befanden. Und jeder Orkan, der vom Meer kam, drohte diese Menschen dort elendig ertrinken zu lassen. Das waren Situationen, die für mich am bedeutendsten waren.
  16. Ein wesentlicher Unterschied zwischen freier Wirtschaft und Politik?
    Erklären Sie mir mal den Begriff freie Wirtschaft! Eigentlich soll es die in unserer Gesellschaftsordnung ja nicht geben. Auch für die Wirtschaft in einem demokratischen Staat gibt es Regeln. Eine der wichtigsten Regeln ist Art. 14 Abs. 2 GG. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Daher ist die freie Wirtschaft auch an Voraussetzungen wie Freiheit, soziale Sicherheit und Demokratie gebunden, sonst kann sie nicht wirtschaften. Und sie soll sich binden lassen an das Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl. Die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen muss natürlich auch erfolgreich sein, sonst kann sie das alles nicht leisten. Aber der Begriff „freie Wirtschaft“ klingt immer ein bisschen so, als hätte man mit dem Rest nichts zu tun.
  17. Drei wichtige Fähigkeiten, die ein Politiker haben sollte?
    Neugierde auf andere Menschen. Sich berühren zu lassen von dem Schicksal anderer. Und den Optimismus, dass man immer eine Lösung finden kann.
  18. Frei nach Werner Herzog: Wer ist Ihr liebster Feind?
    Ich finde Feindschaft in der Politik problematisch. Es ist gut, dass wir Wettbewerber und Konkurrenten sind, aber keine Feinde. Feindschaft finden sie in der US-Politik. Das Ergebnis ist die Spaltung des Landes. Ich finde es ganz gut, dass die Parteien in Deutschland – mit Ausnahme der AfD – sich nicht als Feinde betrachten. Natürlich wollen wir gewinnen und die anderen sollen verlieren, wir stehen im Wettbewerb zueinander. Aber wir unterstellen nicht, dass der Untergang des Abendlandes droht, wenn der andere gewinnt. Mit dem Begriff Feindschaft in der Politik habe ich daher ein Problem. Wenn Sie wissen wollen, wer meine liebsten Gegner waren – das waren die Abgeordneten, die mir im Parlament Fragen gestellt haben, denn damit konnte ich meine Redezeit verlängern. Deshalb haben sie auch irgendwann nicht mehr gefragt. Debatten im Parlament haben mir ohnehin am meisten Freude gemacht.  
  19. Wo hätten Sie gerne einen Zweit- oder Drittwohnsitz?
    Als Erstes müsste es warm sein. Ich glaube ich würde den Zweit- oder Drittwohnsitz gerne auf einem anderen Kontinent haben, zum Beispiel in den USA oder in Australien. Aber dafür reicht es leider nicht.
  20. Was ist Ihr größtes Talent?
    Komplizierte Dinge so zu erklären, dass sie auch Nichtfachleute verstehen.
  21. Eine wesentliche Erkenntnis aus Ihrer Zeit als Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland?
    Da kann ich nur Joe Biden zitieren. Als ich ihn traf war er Vizepräsident der USA und ich war Vizekanzler. Wir trafen uns im Weißen Haus und als er reinkam sagte er nicht „Hallo Sigmar“, sondern „Na, Vize ist Mist, oder?“. Er meinte damit, dass man als Vize immer die Sachen machen muss, die der Präsident oder die Kanzlerin gerade nicht machen will. Man räumt immer dahinter auf. Das war ganz lustig. Joe Biden hat es danach allerdings besser hinbekommen als ich, er ist ja schließlich Präsident geworden.
  22. Wann wurden Sie zuletzt positiv überrascht?
    Gestern von meiner zehnjährigen Tochter, weil sie sich – ohne es vorher zu erzählen – getraut hat, eine Schwimmprüfung abzulegen. Sie war ganz stolz auf das Totenkopfabzeichen“, das sie dafür bekommen hat. Da meine Tochter, was Wasser angeht, eigentlich eher ein ängstliches Kind ist, war ich überrascht, dass sie sich das zugetraut hat. Für Sie mag sich das nebensächlich anhören, aber für meine Tochter war das etwas Besonderes. Und deshalb war es das auch für mich.
  23. Wenn Sie nochmal zwanzig wären, wohin und was tun?
    Ich würde die Chance nutzen im Ausland zu studieren. Das war in meiner Generation so üblich. Es war von den finanziellen Möglichkeiten bei uns zuhause nicht drin. Aber heute würde ich mir dafür sogar Geld bei der Bank leihen.
  24. Welche Persönlichkeit, die Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn kennenlernen durften, hat Sie am meisten beeindruckt?
    Das waren sicherlich Menschen wie Willy Brandt und Helmut Schmidt. Aber auch Bill Clinton. Und der damalige Premierminister von Somalia (Hassan Ali Khaire, Anm. d. Red.), der ständig in Lebensgefahr schwebte und trotzdem versuchte sein Land nach Jahrzehnten des Krieges wiederaufzubauen. Solche Menschen haben mich sehr fasziniert.
  25. Wie sollte man mit Rückschlägen und Niederlagen umgehen?
    Ich war ja Soldat bei der Bundeswehr, dort gab es eine gute Regel: Bevor man sich über etwas aufregt oder beschwert, sollte man eine Nacht drüber schlafen. Wenn man einen Rückschlag erlebt, neigt man dazu, die ganze Welt für ungerecht zu erklären. Aber wenn man einen Moment darüber nachdenkt, findet man eigentlich immer Gründe dafür, warum etwas schiefgegangen ist. Gründe, die auch mit einem selbst zu tun haben. Das sind eigentlich die besten Momente, wenn man erkennt, welchen Anteil man selbst an einer Sache hatte. Dann kann man es beim nächsten Mal besser machen. Aber dafür muss man eine Nacht drüber schlafen, das geht nicht sofort.
  26. Ein Lebenstraum, den Sie sich noch nicht erfüllt haben?
    Ich würde gerne mit einem Camper durch Australien fahren. Ich mag Naturlandschaften lieber als Städte.
  27. Sie haben zwölf Stunden in New York, was machen Sie?
    Erstmal früh aufstehen. Im Sommer würde ich nochmal versuchen durch den Central Park zu laufen. Das habe ich früher als junger Mann immer gemacht, wenn ich in New York war. Ich muss allerdings zugeben, dass ich schon damals gelegentlich deprimiert war, wenn wesentlich Ältere locker an mir vorbei gejoggt sind. Das wäre vermutlich heute noch weitaus schlimmer. Danach den ersten Kaffee trinken. Dann duschen und in den Tag starten. Ich würde versuchen im Sommer nochmal nach New York zu fahren – es gibt herrliche Freiluftkonzerte in den Parks. Ich würde mit Sicherheit den Tag oben auf einer Rooftop-Bar beschließen. Dazwischen würde ich eine Mischung aus Museen und der Besichtigung von Stadtteilen machen, denn New York verändert sich ja ständig und es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Ich habe mal erlebt wie sich der Meatpacking District Schritt für Schritt innerhalb von ein paar Jahren veränderte. Es war einfach immer etwas neues was da passierte. Insgesamt habe ich New York immer lieber draußen genossen, um etwas von den Veränderungen mit zu erleben.  Und natürlich würde ich auch versuchen zu einem Spiel der NFL zu gehen.
  28. Von welchem Künstler würden Sie gerne ein Werk besitzen?
    Von Udo Lindenberg würde ich gerne ein Original besitzen. Z.B, ein Bild über „Atlantic Affairs“.
  29. Da Reisen diesen Sommer wieder möglich ist, wohin zieht es Sie?
    Erstmal zieht es mich natürlich in die USA und hier nach Boston und auf eine Insel in Maine. Dort gibt es ein interessantes internationales Forschungszentrum, das mich zu einem Besuch eingeladen hat. Ich konnte allerdings auch in den letzten Jahren dorthin reisen.  Den Sommerurlaub werde ich mit meiner Frau und meinen Kindern auf Korsika verbringen. Wir waren alle noch nicht dort und wollen mal was Neues entdecken.
  30. Was ist der beste Rat, den Sie in Ihrem Leben erhalten haben?
    Herbert Wehner hat immer handschriftliche Zettel verteilt, wenn Leute in politischen Schwierigkeiten waren. Darauf standen drei Worte: „Nicht aufgeben! Weitermachen!“. Und einen dieser Zettel reichte später Hans-Jochen Vogel in einer schwierigen Situation an mich weiter. Das werde ich wohl nicht vergessen, das empfand ich als sehr emotionale Geste.

 

                                                   

                                                  Sigmar Gabriel ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke und einer der profiliertesten deutschen Politiker. Er war Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland und Bundesaußenminister im Kabinett Merkel III. Von  2013 bis 2017 war er Bundesminister für Wirtschaft und Energie. Sigmar Gabriel bekleidete über viele Jahre das Amt des Parteivorsitzenden der SPD (2009-2017) und setzte sich als Bundesumweltminister (2005-2009) für den Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie ein. Vor seinem Einzug in den Bundestag widmete er sich der Kommunal- und Landespolitik Niedersachsens, dessen Geschicke er von 1999-2003 als Ministerpräsident lenkte. Er ist Vater von drei Töchtern und hält seiner Geburtsstadt Goslar bis heute die Treue.