By Isabel Cagala

In der Interview-Reihe „Deutsche Juristen in den USA” stellen wir Ihnen Menschen vor, die beruflich den Sprung über den großen Teich gewagt haben. Wir wollen erkunden, was jene Juristinnen und Juristen dazu bewegte in den USA beruflich Fuß zu fassen, was sie innerhalb und jenseits der Juristerei umtreibt und natürlich auch wie es sich fern der alten Heimat lebt. Den Auftakt machen wir mit Reinhard von Hennigs, dessen „Experiment Amerika” vor 26 Jahren in Kalifornien begann.

 

Herr von Hennigs, Sie sind seit knapp drei Jahrzehnten anwaltlich in den USA tätig. Was bewog Sie dazu, Ihr Glück jenseits des Atlantiks zu suchen?

Das hat sich eher zufällig ergeben und war nicht von langer Hand geplant. Nach dem Referendariat wollte ich über den Tellerrand hinausblicken, deshalb ging es für den LL.M. in die USA. Und danach wollte ich praktische Erfahrungen in den USA sammeln. Ich wollte mir den Master nicht einfach nur an die Wand hängen, wie es in den USA üblich ist. Ich wollte international arbeiten. Und wie so oft im Leben, ergab dann eins das andere. Ich erhielt nach dem Master die Möglichkeit für eine deutsch-amerikanische Kanzlei zu arbeiten und anschließend für eine amerikanische Großkanzlei. Diese Chance habe ich damals genutzt. Aus dem einen Jahr USA sind mittlerweile 26 Jahre geworden. Ich bin sehr froh, dass es so gekommen ist.

Die DAJV erhält regelmäßig Anfragen von deutschen Juristen, die in den USA arbeiten möchten. Was würden Sie Auswanderwilligen raten?

LL.M. Absolventen sollten vom Optional Practical Training (OPT) Gebrauch machen, das es einem ermöglicht, nach dem Masterabschluss für ein Jahr in den USA zu arbeiten. Wer hingegen langfristig in den USA arbeiten möchte, sollte statt des einjährigen LL.M.s einen dreijährigen J.D. absolvieren. Ausländische Juristen können sich häufig einige Kurse anrechnen lassen, so dass sich das J.D. Programm auf zwei Jahre verkürzen lässt. Danach können erfolgreiche Absolventen in jedem US-Bundesstaat das Bar Exam absolvieren. Die Chancen auf dem juristischen Arbeitsmarkt sind mit einem J.D. natürlich deutlich besser als mit einem LL.M. Zudem gibt es Austauschprogramme der American Chamber of Commerce. Auch auf diesem Wege lässt sich ein Arbeitsvisum für maximal zwei Jahre erhalten. Wer in den USA wissenschaftlich tätig sein möchte, kann sich für ein O-1A Visum bewerben. Man trifft auch immer wieder deutsche Volljuristen ohne US-Anwaltszulassung, die sich in amerikanischen Kanzleien als Paralegals, also Rechtsanwaltsfachangestellte, verdingen. Wer damit kein Problem hat, kann auch damit recht gut verdienen. Man sollte also eine gewisse Kreativität und Flexibilität bei der Berufswahl mitbringen, dann lassen sich die Jobchancen deutlich erhöhen.

Viele Juristen zieht es in die großen US-Städte wie New York oder Chicago. Sie haben Ihre Kanzlei im vergleichsweise kleinen Charlotte, NC gegründet. Wie kam es dazu?

Aus unternehmerischer Sicht war sicherlich relevant, dass es in Charlotte eine sehr starke deutsche Community gibt. Mehr als 200 deutsche Unternehmen haben eine Niederlassung in Charlotte, darunter zahlreiche DAX-Konzerne wie Daimler, Siemens oder BASF. Das zieht auch viele mittelständische Unternehmen aus Deutschland an. Der juristische Beratungsbedarf ist entsprechend groß. Allein aus wirtschaftlicher Sicht sprach also einiges dafür, Charlotte als Kanzleistandort zu wählen. Zudem ist alles eine Frage der Perspektive: Verglichen mit New York oder Chicago ist Charlotte natürlich klein. Aber in der Region leben drei Millionen Menschen. Der Flughafen Charlotte ist der sechstgrößte der Welt. Charlotte ist also nicht das Provinzdorf, für das es viele halten. Wir sind die zweitgrößte Bankenstadt in den USA. Die Bank of America, eine der größten Banken der Welt, hat beispielsweise ihren Unternehmenssitz in Charlotte. Auch insofern ist Charlotte als Kanzleistandort sehr spannend.

Sie beraten seit Jahrzehnten auf beiden Seiten des Atlantiks mittelständische Unternehmen. Worin unterscheiden sich US-Mandanten von deutschen Mandanten?

Deutsche Mandanten unterscheiden sich im Wesentlichen in zwei Punkten von US-Mandanten. Sie sind zum einen sehr viel beratungsskeptischer als US-Mandanten, um nicht zu sagen beratungsresistent. Zum anderen darf Rechtsberatung nicht allzu viel kosten. Dabei gilt auch hier: Guter Rat ist teuer. Dennoch sind deutsche Mandanten häufig nicht bereit, in gute Rechtsberatung zu investieren.

„US-Mandanten wissen: There is no free lunch in this world.“

US-Mandanten gehen da ganz anders vor. Sie kommen auf mich in der Weise zu: „Wir kaufen Dich jetzt für einen Tag ein. Erkläre uns mal, wie Deutschland funktioniert“. Das wäre bei deutschen Mandanten absolut undenkbar. Die Amerikaner sind bereit, gutes Geld für gute Beratung auszugeben, denn sie wissen: There is no free lunch. Der deutsche Mandant hingegen würde alle Leistungen gerne kostenneutral erhalten und am liebsten selber machen. Das trifft natürlich nicht auf alle Mandanten zu, aber tendenziell nehme ich diese Unterschiede wahr.

„Deutsche Mandanten würden alle Leistungen gerne kostenneutral erhalten und am liebsten selber machen.“

Wir stellen in der Kanzlei so auch immer wieder fest, dass Projekte mit einem größeren Stundenvolumen bei deutschen Mandanten schwer durchsetzbar sind. Ich erhielt jüngst die Anfrage eines süddeutschen Mittelständlers zu einer sehr ernsthaften rechtlichen Angelegenheit. Nachdem wir über die Kosten gesprochen hatten sagte er: „Ach, das machen wir lieber selbst.“ Bei einem amerikanischen Geschäftsführer wäre eine solche Entscheidung undenkbar. Man wüsste, dass „selber machen“ in solch einem Fall nicht gut gehen kann. Andererseits ist die Loyalität deutscher Mandanten, wenn man erstmal eine Geschäftsbeziehung aufgebaut hat, tendenziell größer als die Loyalität amerikanischer Mandanten. Deutsche Mandanten bleiben einem länger treu.

Viele deutsche Juristen in den USA konzentrieren sich auf die Beratung deutscher Mandanten, die in den USA wirtschaftlich tätig sind. Wie ist das bei Ihnen?

So ist es auch bei mir. Die Beratung deutscher Mittelständler in den USA nimmt über 90% meines Tagesgeschäfts ein. Wir betreuen beispielsweise Familienunternehmen, die seit mehreren Generationen eigentümergeführt sind. Unsere Mandanten sind teilweise die Urenkel der Unternehmensgründer, die nun die Expansion in die USA wagen wollen und von uns beraten werden. Der US-Markt mit über 330 Millionen Konsumenten ist für deutsche Unternehmen natürlich sehr reizvoll. Daneben betreuen wir zu ca. 10% US-Mandanten, die sich in Deutschland niederlassen möchten.

Sind US-Amerikaner grundsätzlich eher zurückhaltend, wenn es darum geht Non-Natives zu mandatieren?

Das ist sicherlich zutreffend. Es geht dabei aber weniger um fachliche Kompetenz, sondern eher um die häufig empfundene persönliche Verbundenheit zu anderen US-Amerikanern. Man hat einen ähnlichen kulturellen Hintergrund und ähnliche persönliche Interessen. Vielleicht haben sie das gleiche College besucht und sind Fans der gleichen College Basketballmannschaft. In dieser Hinsicht sind mir die USA auch nach 26 Jahren immer noch fremd.

Wir Deutsche haben nicht den typischen Stallgeruch, den Amerikaner häufig erwarten.”

Es ist ein Land, das in unzählige kleine Gruppierungen zersplittert ist und in dem auch eine gewisse Abschottung herrscht. Ich würde mich daher vermutlich schwertun, normale US-Unternehmen als Mandanten zu gewinnen. Wir Deutsche haben nicht den typischen Stallgeruch, den Amerikaner häufig erwarten. Im Bereich der alltäglichen Rechtsanwendungen wie Verkehrsrecht, Familienrecht oder Immobilienrecht spielt der kulturelle Hintergrund eine geringere Rolle. In diesen Angelegenheiten gibt es häufig Non-Natives, die im US-Recht beraten. Ich persönlich fühle mich in der Nische, Rechtsberatung für den deutschen Mittelstand in den USA, sehr wohl. Wenn es hingegen darauf ankommt US-Mandanten für klassisches US-Geschäft zu akquirieren, schicke ich meine US-Kollegen vor.

Was können deutsche Anwälte von US-Anwälten lernen?

Salopp gesagt, höhere Stundensätze. Wenn ich mir die Stundensätze unserer deutschen Büros ansehe, tut das schon weh. Amerikanische Anwälte begreifen die Rechtsberatung als das, was sie ist, ein Business. Im Gegensatz dazu wird die Rechtsberatung von vielen deutschen Kollegen noch immer als hohe Kunst begriffen. Beide Ansätze haben sicherlich ihre Berechtigung. Aber das Selbstverständnis eines amerikanischen Anwalts ist deutlich pragmatischer und auch unternehmerischer. Letztlich ist es egal, ob man heute eine Autowaschstraße und morgen eine Kanzlei betreibt, unterm Strich stellen sich ähnliche Herausforderungen. Man muss Mitarbeiter und Miete zahlen, Kunden zufriedenstellen und die Umsätze im Blick behalten.

„Amerikanische Anwälte begreifen die Rechtsberatung als das, was sie ist: ein Business.“

Für viele Deutsche Anwälte bietet die Rechtsschutzversicherung und das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz eine ganz andere Sicherheit, die es so in den USA nicht gibt. Das erklärt vielleicht auch die weniger unternehmerische Herangehensweise in Deutschland. Ich habe von der Entrepreneurs’ Organization gelernt, dass sich alle Prozesse optimieren lassen, auch die Rechtsberatung. Man muss eine Law Firm als Firm begreifen, mit allem was dazu gehört. Es ist eben nicht nur Rechtsberatung, sondern auch Marketing, Strategie und HR. Das Wissen um all die Faktoren, die zu einem erfolgreichen Unternehmen gehören, hat mir dabei geholfen meine Kanzlei aufzubauen.

Gibt es umgekehrt auch etwas, das sich US-Anwälte bei ihren deutschen Kollegen abschauen können?

Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtspflege. Die Arbeit mit dem Gesetz, die uns deutschen Juristen in der Ausbildung so sehr eingebläut wird, ist vielen amerikanischen Juristen fremd. US-Juristen beherrschen das Case Law, aber dass es daneben auch Gesetze gibt, scheint für manche überraschend zu sein. Ich habe das bei meiner eigenen Ausbildung in den USA erlebt. Der Uniform Commercial Code wurde uns ausschließlich anhand von Cases und Lehrbüchern erklärt, ohne Gesetzbuch. Ich habe den UCC dann selbst im Gesetz nachgelesen.

„Die Arbeit mit dem Gesetzbuch ist in der amerikanischen Juristenausbildung nicht vorgesehen.“

Die Arbeit mit dem Gesetzbuch ist in der amerikanischen Juristenausbildung nicht vorgesehen. Gleichzeitig glaube ich, dass wir gerade eine gewisse Annäherung der beiden Systeme, Case Law und Common Law, erleben. In den USA gibt es einen großen Kodifizierungstrend und in Deutschland nimmt die richterliche Rechtsfortbildung nach meinem Empfinden in vielen Bereichen zu. Insbesondere mit Blick auf das IT-Recht.  Ich glaube also, dass sich beide Systeme schrittweise annähern. 

In Deutschland wird insbesondere mit Blick auf Digitalisierung und Automatisierung häufig kritisiert, dass der Rechtsmarkt nicht gerade innovationsfreundlich sei. Wie wird Legal Tech in den USA aufgenommen?   

In den USA gilt das Trial and Error Prinzip. Man testet verschiedene technische Lösungen und schaut einfach, was für einen funktioniert. Nach dem Motto „Let’s do it!“ und das ganze mit Tempo. Die Deutschen hingegen wollen wissen, “was die Welt im Innersten zusammenhält”. Erst wenn sie sich hierüber klargeworden sind, wird ein Projekt mit höchster Präzision umgesetzt bis es irgendwann gar keinen Sinn mehr macht, das Projekt umzusetzen, weil sich die Welt in der Zwischenzeit gewandelt hat. Im Umkehrschluss bedeutet Trial and Error aber auch, dass man den Good Will der Amerikaner nicht allzu sehr strapazieren darf. Wenn eine Zusammenarbeit nicht funktioniert, wird sie auch schnell wieder beendet.

Die USA haben hinsichtlich RegTech und Legal Tech Startups wieder einmal die Nase vorn. Wie erklären Sie sich, dass die Quote an Unternehmensgründern in den USA sehr viel größer ist als in Deutschland?

Das fängt schon mal damit an, dass Unternehmertum in den USA von klein auf gefördert wird. In den USA werden schon Kinder dazu angehalten, unternehmerisch zu handeln, natürlich im ganz Kleinen. Es ist beispielsweise absolut üblich, dass amerikanische Grundschüler Cookies oder selbstgemachte Limonade an die Nachbarschaft verkaufen. Auch wenn Kinder Aufgaben im Haushalt übernehmen, geben ihnen die Eltern häufig Geld dafür. Das Unternehmertum wird den Amerikanern in die Wiege gelegt, es steckt in der amerikanischen Seele.

Gab es in Ihrer anwaltlichen Laufbahn Rückschläge, die Sie an Ihrem beruflichen Weg in den USA zweifeln ließen?

Es gab sicherlich Momente, in denen ich die Entscheidung in den USA zu leben, überdacht habe. Das waren weniger persönliche Rückschläge, sondern vielmehr äußere Ereignisse, die solche Überlegungen auslösten. Der 11. September war einer dieser Momente. Einer meiner Kollegen in Atlanta hatte am 11. September einen Termin im WTC, sagte diesen aber kurzfristig ab, weil er den Flieger verpasste. Später hörte ich viele Geschichten von Menschen, die durch Zufall den Terroranschlägen entkommen waren. Die Terroranschläge waren sicherlich eine große Zäsur. Ich habe danach ein sehr viel ausländerfeindliches Amerika erlebt. Die USA waren vor den Anschlägen sehr offen, viel offener als sie es heute ist. Amerika hat seither eine gewisse Sicherheitsparanoia entwickelt und schottete sich in den Jahren nach dem 11. September von Ausländern ab. Angesichts dessen haben meine Frau und ich uns damals gefragt, ob wir zurück nach Deutschland wollen. Wir dachten darüber nach, das „Experiment Amerika“ zu beenden. Auch war die wirtschaftliche Situation in den USA damals sehr schlecht. Deutsche Investoren zogen sich aus Amerika zurück.

„In den USA habe ich gelernt, dass eine Krise bedeutet neu durchzustarten.“

Eine weitere Zäsur war der Irak-Krieg. Ich erinnere mich noch, wie ich nach Beginn des Krieges auf einem Flug in die USA einen Châteauneuf-du-Pape bestellte und der amerikanische Steward völlig überrascht dreimal nachfragte, ob ich tatsächlich einen französischen Wein trinken wolle. Das war die Zeit der Freedom Fries, in Amerika gehörte es zum guten Ton französische Produkte zu meiden. In den Jahren nach dem 11. September nahm ich die USA als sehr xenophob wahr. Auch zur damaligen Zeit habe ich ernsthaft überlegt nach Deutschland zurückzukehren. Ein weiterer Wendepunkt war die Finanzkrise 2008, als die Wirtschaft einbrach.

Was bewog Sie letztlich dazu, trotz der beschriebenen Krisen in den USA zu bleiben?

In den USA habe ich gelernt, dass eine Krise bedeutet neu durchzustarten. Ich hatte mal einen amerikanischen Mandanten, der mir nach zwei Insolvenzen voller Begeisterung erklärte, was er aus den Rückschlägen gelernt habe. Er war fest entschlossen, es ein drittes Mal zu versuchen. Er war sich ganz sicher, dass sein neues Unternehmen erfolgreich sein würde. Man stelle sich diese Situation in Deutschland vor! In Deutschland hört man dann „einmal Bankrotteur, immer Bankrotteur“. Anders in Amerika, dort wird eine Niederlage als Chance empfunden.

Das erinnert an ein bekanntes Samuel Beckett Zitat: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Gibt es gleichwohl Dinge, die Sie ex post anders machen würden?

Vielleicht hätte ich mich noch mehr auf das Amerikanische einlassen können. Ich habe die Amerikaner immer als anders, als amerikanisch betrachtet. Ich hätte mich stattdessen auch mehr von meiner deutschen Vita trennen können. Ich hatte mal eine Mandantin, die mich damit beauftragte eine Namensänderung für sie durchzuführen. Sie wollte ihren deutschen Namen aufgeben. Sie suchte sich dann im Telefonbuch einen amerikanischen Vor- und Nachnamen aus, weil sie als Amerikanerin wahrgenommen werden wollte. Auch gibt es viele Einwanderer, die versuchen ihren Akzent abzulegen und dafür einen Coach beauftragen. Das habe ich nie gemacht. Ich habe immer sehr stark meine Dualität gelebt und tue dies auch weiterhin. Ich glaube nicht, dass mein Weg falsch war, und bereue nichts. Aber man hätte es anders machen können. Vielleicht hätte man dann noch ganz andere Dimensionen erreicht.

Wenn ich deutsche Freunde in den USA besuche, stelle ich immer wieder fest, dass deren Freundeskreis überwiegend aus anderen Einwanderern besteht. Sucht man als Einwanderer im persönlichen Umfeld tendenziell eher Kontakt zu anderen europäischen Einwanderern, als zu US-Amerikanern?

Da ist sicherlich viel Wahres dran. US-Amerikaner ticken schon anders als Deutsche. Die Frage ist aber, gibt es den Deutschen? Gibt es den Amerikaner? Amerikaner aus Kalifornien sind anders als Amerikaner aus Florida oder First Nation Amerikaner oder Amerikaner, die an der Grenze zu Kanada leben. Ich glaube dennoch, dass sich der idealtypische Amerikaner mit Menschen, die nicht aus den USA kommen, sehr schwer tut. Das fängt damit an, dass der übliche Smalltalk nicht funktioniert. Stellen Sie sich eine Gruppe amerikanischer Männer vor, die sich beim BBQ über die College Basketball Division unterhalten. Und wenn man damit fertig ist, unterhält man sich über den College Football. Wer nicht in den USA sozialisiert wurde, tut sich bei diesen Smalltalk-Themen eher schwer.

Andererseits sind in den USA nahezu alle Einwanderer und können von der Einwanderergeschichte ihrer Familie erzählen. Man könnte die individuelle Einwanderergeschichte geradezu als beliebtes Smalltalk-Thema zu bezeichnen. 

Da stimme ich zu. Man hat es daher als Migrant in den USA vermutlich etwas leichter als in Deutschland. Aber am Ende steht immer die Frage: mit wem teile ich eine ähnliche Kultur und mit wem teile ich ähnliche Interessen? Ich bin Gründungsmitglied des Atlanta Lawyers’ Orchestra und stelle immer wieder fest, dass mir kulturell viele Musiker des Orchesters sehr viel näher sind als andere US-Kollegen. Viele Mitglieder des Orchesters sind jüdischen Glaubens und teilen ähnliche Werte hinsichtlich Erziehung und Bildung. Für sie ist es auch völlig normal mit Kindern in die Oper oder in ein Konzert zu gehen, während es für viele Amerikaner völlig normal ist mit den Kindern Sport zu machen. Aber Musik, warum? In Deutschland trifft man sich mit Freunden, um gemeinsam in die Oper zu gehen. Die Amerikaner treffen sich zum Sport. Häufig geht man in den USA nicht mal ins Stadion, sondern trifft sich zum Tailgating. Man stellt das Auto auf dem Parkplatz vor dem Football-Stadion ab, klappt den Kofferraum auf und veranstaltet ein BBQ. Das ist eine andere Mentalität.

„Viele Mitglieder des Atlanta Lawyers’ Orchestra sind jüdischen Glaubens und teilen ähnliche Werte hinsichtlich Erziehung und Bildung.“

Ich glaube noch immer, dass die Amerikaner jeden mit offenem Herzen aufnehmen. Gleichzeitig sind die USA auch ein Land, das sich durch eigene Normen abschottet. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele Einwanderer einen sehr großen Assimilierungsdruck verspüren. Als Honorarkonsul begegnen mir Menschen, die seit 30 Jahren in den USA leben und keinen sinnvollen deutschen Satz produzieren können. Bei unserer Partner-Kanzlei in Kanada nehme ich dies anders wahr. Dort ist es üblich ethnische Unterschiede zu haben. Der Assimilierungsdruck ist dort geringer. Das Anderssein wird in Kanada sehr viel mehr zelebriert als in den USA.

Sie leben mittlerweile fast ebenso lang in den USA, wie Sie in Deutschland gelebt haben. Was würden Sie heute als Ihre Heimat bezeichnen?

Deutschland und die USA. Frei nach dem lateinischen Sprichwort: Ubi bene, ibi patria. Ich fühle mich in beiden Ländern wohl und in beiden Ländern geht es mir gut. Die USA haben mir etwas gegeben, was Deutschland mir nie hätte geben können. Als ich nach Amerika kam, entdeckte ich ein Land ohne Grenzen und voller Chancen. Zu Zeiten meiner beruflichen Anfänge als junger Anwalt in Deutschland, wollten die Mandanten immer nur mit dem Partner sprechen. Ein halbes Jahr später in den USA war ich dann überrascht, dass die Mandanten von mir unterrichtet werden wollten. Denn ich war in den Fall eingearbeitet und mein Stundenlohn war wesentlich niedriger als der des Partners.

„Die USA haben mir etwas gegeben, was Deutschland mir nie hätte geben können.“

Das zeigte mir, wie Amerika funktioniert. Ich habe in den USA als Praktikant, Junior Lawyer und Partner gearbeitet, aber eines war allen Positionen gemeinsam: Der „You can do it!“ Spirit. Er zieht sich durch alle Hierarchiestufen. Wenn ich heute auf die vergangenen 26 Jahre zurückblicke und mir vorstelle, was ich in dieser Zeit in Deutschland gemacht hätte, dann denke ich, dass ich in den USA weitergekommen bin, als ich es in Deutschland wäre. Ich bezweifle, dass ich in Deutschland eine deutsch-amerikanische Kanzlei mit sechs Standorten aufgebaut hätte. Ich glaube nicht, dass ich in Deutschland so weit gekommen wäre. Und dafür bin ich Amerika sehr dankbar. Das Entrepreneurship-Biotop in den USA hat mir ermöglicht, mich dorthin zu entwickeln, wo ich heute bin.

 

 

Reinhard von Hennigs ist Präsident und Gründer von BridgehouseLaw LLP einer in North Carolina ansässigen Anwaltskanzlei mit Büros in den USA, Kanada und Deutschland. Er ist als Rechtsanwalt in Deutschland, in North Carolina (Attorney at Law) und in Georgia (Foreign Law Consultant) sowie bei dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zugelassen. Seine Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf ausländische Direktinvestitionen (FDI) unter Beachtung von Einwanderungs-, Steuer-, Haftungs- und regulatorische Aspekten. Er ist Präsident des Charlotte Chapter der Entrepreneurs Organization (EO), eines globalen Think Tank und einer internationalen Peer-to-Peer-Gruppe von Unternehmern. 2021 wurde er zum Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Charlotte, NC ernannt.