Opinion

By Christian Funck

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle sieht einen Rückbau und Bedeutungsverlust des US-Supreme Courts und übernimmt dabei unkritisch Narrative der US-Innenpolitik. Warum er damit falsch liegt und wo die wahren Probleme des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten liegen.

In einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ schreibt Voßkuhle über die weltweite Entmachtung von Verfassungsgerichten. Treibende Kräfte der Attacken seien Rechtspopulisten, in deren Weltbild Verfassungsgerichte keinen Platz hätten. Als Hauptbeispiel für den „Rückbau und Bedeutungsverlust der Verfassungsgerichte in vielen Ländern“ nennt Voßkuhle – neben den „Klassikern“ Ungarn und Polen sowie „Newcomer“ Israel – die Vereinigten Staaten.

Voßkuhle behauptet zunächst, die Republikaner hätten den Supreme Court – beginnend mit der Reagan-Ära – mittels einer „perfide[n] Personalpolitik in eine zutiefst konservative Institution verwandelt“. Fraglich ist, worauf Voßkuhle den schwerwiegenden Vorwurf der Perfidie stützt. „Perfide“ handelt, wer anderen in niederträchtiger und gemeiner Weise Schaden zufügen will. Die drei von Präsident Ronald Reagan ernannten Supreme Court-Richter – von denen man im Übrigen nur einen (Antonin Scalia) als „konservativen Richter“ bezeichnen konnte – waren vom Senat mit 99:0, 98:0 und 97:0 Stimmen bestätigt worden. Warum wohl kein einziger Senator die perfiden Absichten der Republikaner erkannte?

Voßkuhles Kritik konzentriert sich auf die drei von Präsident Donald Trump ernannten Richter Neil Gorsuch (2017), Brett Kavanaugh (2018) und Amy Coney Barrett (2020). Während Voßkuhle bei allen drei Richtern zu stören scheint, dass diese „konservativ“ sind, bemängelt er bei Gorsuch und Barrett auch deren Ernennungsverfahren.

Der „erzkonservative“ Gorsuch: Wurde Obama ein Richter gestohlen?

Der von Voßkuhle als „erzkonservativ“ titulierte Gorsuch war zu Beginn der Amtszeit von Präsident Trump Richter am Supreme Court geworden. Nach dem Tod des „konservativen“ Richters Antonin Scalia im Jahr 2016 hatte Präsident Barack Obama den von ihm für die Nachfolge Scalias nominierten Kandidaten, den „liberalen“ Juristen Merrick Garland, auf Grund einer fehlenden demokratischen Mehrheit im US-Senat nicht ernennen können. Der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, hatte sich mit Verweis auf die im selben Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen bereits geweigert, Garland im Justizausschuss auch nur anzuhören. Bis zu Scalias Tod hatten dem Supreme Court vier „liberale“ und vier „konservative“ Richter sowie ein „swing voter“ angehört.

Voßkuhle kritisiert, nach dem Tod des Richters Scalia sei „eigentlich klar“ gewesen, dass Präsident Obama „die Stelle neu zu besetzen hatte“. An anderer Stelle seines Beitrags verbreitet Voßkuhle unwidersprochen die Behauptung, „in den USA würden die Richter durch die Regierung bestimmt“. Voßkuhle nimmt damit das in der Demokratischen Partei weit verbreitete Narrativ vom gestohlenen Richterposten auf. Voßkuhle scheint aber nicht ganz klar zu sein, nach welchen Regeln die Besetzung von Richterposten am Supreme Court abläuft.

Richtig ist, dass der Präsident nach der US-Verfassung die Kompetenz hat, Richter für den Supreme Court zu nominieren, für deren Ernennung benötigt er jedoch die Zustimmung des Senats (Art. 2 Abs. 2 S. 2 US-Verfassung). Der Präsident kann daher nicht alleine über die Besetzung einer Richterstelle am Supreme Court „bestimmen“ (= entscheiden). Unabhängig davon, wie man das Verhalten McConnells politisch bewertet – eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Senats, den vom Präsidenten nominierten Kandidaten zu bestätigen (oder auch nur anzuhören), besteht nicht. Der Senat ist keine „Abnickbude“, das Erfordernis seiner Zustimmung ist Ausfluss des Systems der „checks and balances“ und der föderalen Struktur der USA. Auch historisch war die Verweigerung einer Abstimmung – anders als oft behauptet – im Übrigen kein Novum.

Politisch betrachtet war das Vorgehen McConnells zwar diskutabel und der Verweis auf das Wahljahr Unsinn. Denn Präsident und Senat sind für die gesamte Amtszeit demokratisch voll legitimiert. Insgesamt 14 Richter waren dementsprechend in der Historie des Supreme Courts im Jahr vor einer Präsidentschaftswahl nominiert und bestätigt worden. In der Sache war das Verhalten der den Senat „kontrollierenden“ Republikaner aber nachvollziehbar und legitim. Denn mit einer Ernennung Garlands wäre das politische Gleichgewicht am Gericht in eine 5:3-Mehrheit des „liberalen Blocks“ gekippt. Die von Voßkuhle gepriesene „Mitte“ des Gerichts wäre verlorengegangen.

Die „ultrakonservative“ Barrett: Im Eilverfahren durchgepeitscht?

Weiterhin stört sich Voßkuhle an der Ernennung von Amy Coney Barrett. Die von Voßkuhle als „ultrakonservativ“ etikettierte Barrett sei nach dem Tod der „liberalen“ Richterin Ruth Bader Ginsburg (1933-2020) „[i]n einem Eilverfahren“ von McConnell „durchgepeitscht“ worden. Bei allem Respekt vor dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, diese Behauptung ist sachlich schlicht unzutreffend und leistet einer unbegründeten und politisch motivierten Delegitimierung Barretts Vorschub. Voßkuhle nimmt hier keine rechtliche Analyse vor, sondern übernimmt plump ein innenpolitisches Narrativ der Demokraten. Denn um ein „Eilverfahren“ hatte es sich weder im juristischen noch in einem anderen Sinne gehandelt.

Barrett war vielmehr nach einem gewöhnlichen, regulären und rechtlich in keiner Weise zu beanstandenden Verfahren ernannt worden. Dieses war auch nicht außergewöhnlich kurz oder schnell gewesen. Ihr „confirmation process“ hatte eine Länge von 30 Tagen. Von der Gründung des Gerichts an bis in die 1950er Jahre hatte ein durchschnittlicher Bestätigungsprozess nur etwa 13 Tage gedauert. Während der Prozess in den letzten 65 Jahren durchschnittlich 54 Tage dauerte, hatte beispielsweise der Bestätigungsprozess des amtierenden Chief Justice John Roberts im Jahr 2005 nur eine Länge von 23 Tagen. Vor dem Justizausschuss war Barrett zudem über 20 Stunden lang – und damit beispielsweise drei Stunden länger als die „liberale“ Elena Kagan (2010) und sogar etwa acht Stunden länger als die „liberale“ Sonia Sotomayor (2009) – angehört worden. Welchen für das Abstimmungsverhalten im Senat bedeutsamen Erkenntnisgewinn hätte Voßkuhle sich von einer noch längeren Anhörung versprochen? Von einem „Durchpeitschen“ (= in aller Schnelligkeit, ohne Eingehen auf Details durchbringen) kann nach alledem keine Rede sein.

Hat der Supreme Court seine „Mitte“ verloren?

Voßkuhle resümiert, der Supreme Court habe seine „Mitte“ verloren. Diesen Befund macht er insbesondere an der Abschaffung des „landesweit verbriefte[n] Recht[s] auf Abtreibung“ (Dobbs v. Jackson Women´s Health Organization (2022)) sowie der Einschränkung der „Förderung von Minderheiten an Universitäten“, der „sogenannte[n] Affirmative Action“ (Students for Fair Admission v. Harvard (2023); Students for Fair Admission v. University of North Carolina (2023)), fest. Dies ist verwunderlich, da es sich bei beiden Fällen um nach US-Verfassungsrecht vertretbare Entscheidungen handelte.

Zunächst einmal ist es nur bedingt zutreffend, dass Affirmative Action „Minderheiten“ fördert. Denn durch Affirmative Action wurden insbesondere asiatisch-stämmige Studenten bei der Zulassung zum Studium benachteiligt. Es ist daher nachvollziehbar, dass der Supreme Court entschieden hat, dass die ethnische Abstammung bei der Zulassung zum Studium grundsätzlich nicht berücksichtigt werden darf. Auch in Deutschland spielt die ethnische Abstammung bei der Zulassung zum Studium keine Rolle.

Auch die Dobbs-Entscheidung, in der das Abtreibungsurteil Roe v. Wade (1973) aufgehoben wurde, taugt nicht als Nachweis dafür, dass das Gericht seine „Mitte“ verloren habe. Der ehemalige BGH-Richter Thomas Fischer stellte hierzu ebenso nüchtern wie zutreffend fest, dass die Feststellung, die US-Verfassung garantiere kein Grundrecht auf Abtreibung, „schlicht und ergreifend eine vertretbare Auslegung des Verfassungsrechts eines fremden Staats durch das dafür dort zuständige Gericht“ darstelle. Es möge „bitter sein, wenn Gerichte anders entscheiden, als man selbst es hätte tun wollen, wenn man es hätte tun dürfen“. Entscheidend sei aber, „ob die Entscheidung nach dem dort geltenden Recht vertretbar ist.“

Und das war sie. Sie stellt die Korrektur eines historischen Fehlurteils dar. Roe kreierte ein praktisch absolutes Recht auf Abtreibung, das keine Grundlage in der US-Verfassung hat. Es ermöglichte indikationslose Abtreibungen bis zur Geburt und gewährleistete ein Grundrecht auf Abtreibung bis zum 6. (!) Monat (extrauterine Lebensfähigkeit des Kindes). Vor diesem Zeitpunkt durften Bundesstaaten Abtreibungen nicht verbieten. Das Kind hatte unter Roe hingegen keinen verfassungsrechtlichen Status – während nach dem deutschen Grundgesetz auch der ungeborene Mensch Menschenwürde hat: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“ (BVerfGE 39, 1 [41]). Die ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts Gertrude Lübbe-Wolff bezeichnete Roe daher einst zutreffend als das „eklatanteste Beispiel“ der vergangenen 50 Jahre für eine „verstörend einseitige Entscheidung“. Selbst Ruth Bader Ginsburg, die Ikone des „liberalen“ Amerika, hielt die Begründung in Roe für unzureichend und konstatierte einst, Roe habe sich zu weit gewagt und daher öffentlichen Widerstand und akademische Kritik ausgelöst.

Die in Roe kreierte Regelung wäre im Übrigen auch nach den Maßstäben des Grundgesetzes verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 1975 in „Schwangerschaftsabbruch I“ (BVerfGE 39, 1) bereits eine sehr viel strengere 12-Wochen-Fristenlösung für grundgesetzwidrig erklärt. Auch das Bundesverfassungsgericht – dem Voßkuhle zehn Jahre vorstand – erkennt zudem kein „Recht auf Abtreibung“ an: „Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44])“ (BVerfGE 88, 203). Selbst nach Ansicht der beiden Abweichler in der mit 6:2 Stimmen ergangenen „Schwangerschaftsabbruch I“-Entscheidung ging Roe „nach deutschem Verfassungsrecht (…) zu weit“ (BVerfGE 39, 1 [73-74]).

Attacken auf den Supreme Court und seine Legitimität

In der Tat werden der Supreme Court und seine Legitimität attackiert – derzeit aber insbesondere von der linken Seite des politischen Spektrums. Denn zahlreiche führende Vertreter der Demokraten stellen die Legitimität des Supreme Courts und seiner Richter offen infrage. Chuck Schumer drohte gar vor knapp vier Jahren als damaliger Minderheitsführer im US-Senat im Vorfeld einer Abtreibungsentscheidung (June Med. Servs. L.L.C. v. Russo): „Gorsuch, (…) Kavanaugh, ihr habt den Wirbelsturm losgelassen und ihr werdet den Preis zahlen. Ihr werdet nicht wissen, was euch trifft.“ Später ruderte er zurück und behauptete, seine Äußerung habe sich auf Donald Trump und die Republikaner im Senat bezogen.

US-Präsident Joe Biden beschimpfte den Supreme Court nach der Aufhebung von Roe v. Wade als „extremistisch“. Und nach der Affirmative Action-Entscheidung in diesem Jahr lästerte Biden: „This is not a normal court“. Dass man als Regierungschef auf Urteile, die einem nicht gefallen, auch reagieren kann, ohne die Legitimität eines Verfassungsorgans anzugreifen, zeigte jüngst Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als er verkündete, es sei „gut, dass wir eine Verfassungsordnung haben, in der das Bundesverfassungsgericht spricht, und ich bin auch sehr stolz darauf, dass wir die Urteile auch dann beachten, wenn wir vorher anderer Meinung waren“. Der Respekt vor der Institution zeigt sich am Umgang mit Urteilen, die man nicht teilt. In diesem Zusammenhang ist daher auch Donald Trump zu kritisieren, der nach Niederlagen vor niederen Gerichten durch Angriffe auf einzelne Richter („so-called judge“) oder gar das gesamte Justizsystem („Our legal system is broken“) aufgefallen ist.

Die ehemalige demokratische Präsidentschaftsbewerberin Elizabeth Warren wetterte, der mit „Rechtsextremisten“ besetzte Supreme Court sei „außer Kontrolle“ geraten und habe jede Legitimität verloren. Die verlorengegangene „Kontrolle“ wollen viele führende Demokraten – unter ihnen Elizabeth Warren und Alexandria Ocasio-Cortez – durch die Kreation neuer Richterposten wiedergewinnen (sogenanntes „court packing“). Schon die Forderung nach einem Court-Packing ist ein Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit, seine Umsetzung würde eine Gleichschaltung der Justiz bedeuten. Wenn es stimmt, dass sich – wie Voßkuhle behauptet – vor allem „politische Systeme mit totalitären Tendenzen“ mit Verfassungsgerichten als „Gegenspieler“ schwertäten – wie ist dann die Reaktion vieler führender US-Demokraten auf Supreme Court-Entscheidungen der letzten beiden Jahre zu bewerten? Es ist bemerkenswert, dass Voßkuhle die Schaffung neuer Richterstellen in Ungarn rügt, zu den Forderungen führender Demokraten in den USA aber kein Wort verliert.

Doch nicht nur die richterliche Unabhängigkeit, sondern auch Leib und Leben der Supreme Court-Richter sind in Gefahr. Im vergangenen Jahr wurde ein schwer bewaffneter glühender Roe v. Wade-Befürworter in der Nähe des Privathauses von Richter Brett Kavanaugh verhaftet und später wegen versuchten Mordes angeklagt. Der „konservative“ Supreme Court-Richter Clarence Thomas kann seit Veröffentlichung der Dobbs-Entscheidung nicht mehr seiner Tätigkeit als Honorarprofessor an der George Washington University Law School nachgehen, da die Hochschule nicht mehr für seine Sicherheit garantieren kann.

In Voßkuhles Beitrag finden all diese Angriffe auf die Legitimität des Supreme Courts und die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gerichtshof leider keinerlei Erwähnung.

Gefährliche Delegitimierung eines Verfassungsorgans

Auch wenn Voßkuhles Ausführungen überraschend einseitig und sachlich angreifbar sind, bedeutet dies gleichwohl nicht, dass nicht – über einzelne Urteile hinaus – berechtigte Kritik am Supreme Court zu üben wäre. Der Supreme Court lässt sich nämlich in vielerlei Hinsicht mit Fug und Recht als dysfunktional bezeichnen. Lübbe-Wolff hat dies in einem Beitrag treffend beschrieben. Denn es ist kein gutes Zeichen, wenn man ein Gericht gewissermaßen in ideologische Lager einteilen kann und dann – wie im Falle Ruth Bader Ginsburg – einzelne hochbetagte Richter für unersetzbar gehalten werden. In einem funktionierenden Justizsystem muss jeder Richter austauschbar sein. Die Politisierung des Gerichts – zu der Roe v. Wade so wie keine andere Entscheidung beigetragen hat – ist ein Problem. Mit einer Amtszeitbegrenzung (bislang werden die Richter auf Lebenszeit ernannt) sowie dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit im Senat für die Bestätigung der Richter, könnte der beschriebenen Politisierung entgegengewirkt werden.

Anders als Voßkuhle behauptet, hat in den USA aber weder ein Rückbau noch ein Bedeutungsverlust des Supreme Courts stattgefunden. Der Supreme Court hat in den vergangenen Jahrzehnten einige Entscheidungen getroffen, die bei Republikanern – ob nun zu Recht oder Unrecht – auf heftige Kritik gestoßen sind. Aber es ist nicht bekannt, dass die Republikaner deswegen ein Court-Packing oder dergleichen gefordert hätten. Die Republikaner haben keinen Rückbau des Supreme Courts vorgenommen und keine Regelungen verändert, sondern lediglich nach den gegebenen – wenn auch kritikwürdigen – Regeln (der Präsident nominiert Kandidaten für den Supreme Court und der Senat muss diese bestätigen) Richterposten besetzt. Es ist widersprüchlich, wenn Voßkuhle es als „perfide“ kritisiert, wenn Republikaner „konservative“ Richter ernennen (wie bei Kavanaugh), gleichzeitig aber kein kritisches Wort verliert, wenn Demokraten versuchen, „liberale“ Richter zu ernennen (wie bei Garland). Beides ist zwar aufgrund der angesprochenen Lagerbildung nicht unproblematisch, aber als Ausfluss der derzeit geltenden Regelungen legitim.

Vordergründig beklagt Voßkuhle den angeblichen Bedeutungsverlust des Supreme Courts. Doch ein solcher hat gar nicht stattgefunden – und genau das scheint Voßkuhles Problem zu sein: Nämlich, dass Urteile, die ihm missfallen mögen, Wirkung entfalten. Auch ist es paradox, wenn Voßkuhle einerseits pathetisch fordert, ein Verfassungsgericht müsse „Stachel im Fleisch der Machthaber“ und „strukturelle Opposition“ sein, dann aber gleichzeitig kritisiert, wenn der Supreme Court Urteile fällt, die nicht auf Parteilinie der regierenden Demokraten liegen. Abgesehen davon, ist es nicht Aufgabe von Verfassungsgerichten „Stachel im Fleisch der Machthaber“ oder „Opposition“ zu sein. Es ist weder die Aufgabe eines Verfassungsgerichts der Regierung zu gefallen noch sie zu ärgern. Es ist die Aufgabe von Gerichten als unabhängige Instanz nach rechtlichen, objektiven Maßstäben Fälle und Rechtsfragen zu entscheiden. Nicht mehr und nicht weniger.

Der Rückbau eines Verfassungsgerichts kann nur dann „erfolgreich“ sein, wenn es zuvor schon an Legitimität verloren hat. Deswegen ist es gefährlich, wenn politische Akteure, welcher Couleur auch immer, die Legitimität eines Verfassungsgerichts angreifen und untergraben. Es ist gefährlich, wenn beispielsweise die den Demokraten nahestehende und einflussreiche Juristen-Vereinigung „American Constitution Society“ in E-Mails an ihre Mitglieder ständig die Lüge von zwei „gestohlenen Sitzen“ am Supreme Court wiederholt. Solche Lügen und Delegitimierungsversuche sind genauso zurückzuweisen wie die große Lüge Donald Trumps von der „gestohlenen Wahl“. Denn aus der Verbreitung solcher „Fake News“ mag man kurzfristig politisches Kapital schlagen, aber man schadet dem demokratischen Rechtsstaat. Daher ist es gefährlich, wenn eine Person mit der Autorität eines ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – bestenfalls unreflektiert – das Narrativ von den zwei „gestohlenen Sitzen“ übernimmt und sich damit an unbegründeten Delegitimierungsversuchen von Supreme Court-Richtern beteiligt.

 

Der Autor:

Christian Funck, LL.M. (George Washington University), Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht (Prof. Dr. Hillgruber) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Mitglied der Deutsch-Amerikanischen Juristen-Vereinigung.

 

Responsible Editor:

Isabel Cagala, TLB Co-Editor-in-Chief