By Vincent M. Kästle 

Amerikanische Schadensersatzklagen in astronomischer Höhe sorgen in Deutschland immer wieder für amüsiertes Stirnrunzeln. So verklagte ein Verwaltungsrichter in Washington DC eine Reinigungsfirma, die seine Hose verloren hatte, auf 65 Millionen USD Schadensersatz.[1] An der Ladentür hinge ein Schild mit der Aufschrift “satisfaction guaranteed“, was eine verschuldensunabhängige Haftung des Betriebs begründe. In  Minnesota wurde eine Klage gegen den Zauberer David Copperfield mit der Begründung eingereicht, Copperfield würde sich göttlicher Mächte bedienen. Da der Kläger sich selbst für Gott hielt, war er nach seiner Rechtsauffassung alleiniger Inhaber der Zauberkräfte Copperfields. Der Klageantrag war auf Offenbarung der Zaubertricks oder wahlweise 50 Millionen USD Schadensersatz gerichtet.[2] Beide Klagen hatten keinen Erfolg. Für den Verwaltungsrichter hatte die Klage sogar Bumerang-Wirkung: er wurde mittlerweile vom Dienst suspendiert. Neben anderen Dienstverfehlungen sei seine Klage “utterly frivolous”, also rechtsmissbräuchlich, gewesen.[3] Abseits dieser Extremfälle sind aber auch erfolgreiche Klagen in der Öffentlichkeit bekannt geworden, die über die Eigenheiten des amerikanischen Haftungsrechts staunen lassen.

Liebeck v. McDonald’s Hot Coffee Case

Der berühmteste Fall der jüngeren Vergangenheit ist wohl der Liebeck v. McDonalds Hot Coffee Case, der in der deutschen Öffentlichkeit immer noch unter der Überschrift „2,7 Millionen Dollar für verschütteten Kaffee“ bekannt ist.[4] Die damals 79 Jahre alte Stella Liebeck bestellte 1994 am Drive-Through-Fenster eines McDonalds-Restaurants in Albuquerque einen Kaffee für 49 Cent. Sie nahm den Kaffee zwischen ihre Knie, um Milch und Zucker hinzuzugeben, als der Becher, dessen Deckel sie gerade entfernte, umfiel und Liebecks Schoß mit brühend heißem Kaffee überschüttete. Die Folgen des Missgeschicks bieten keinen Grund zum Amüsement. Liebeck erlitt Verbrennungen dritten Grades, musste für acht Tage ins Krankenhaus mit anschließender dreiwöchiger häuslicher Pflege und scheint auch langfristige Schäden davongetragen zu haben in Form von „permanent disfigurement“, also ästhetischen Entstellungen, und „partial disability“, also teilweisen Behinderungen, für die Dauer von zwei Jahren.

Verletzung von Verkehrssicherungspflichten

Obwohl die Folgen gravierend waren und Fr. Liebeck zweifellos zu bemitleiden ist, würden wir hierzulande den Fall wohl trotzdem unter das allgemeine Lebensrisiko subsumieren. Die Rechtsgutsverletzungen beruhen unmittelbar auf dem eigenen fahrlässigen Umgang mit heißen Getränken durch Fr. Liebeck, sodass eine (Mit)haftung von McDonalds allenfalls bei Verletzung von Verkehrssicherungspflichten in Betracht käme. Die deliktischen Verkehrspflichten decken sich hier mit den vertraglichen Schutzpflichten aus § 241 II BGB, sodass eine Abgrenzung vorliegend entbehrlich ist. Auf Besonderheiten des Vertragsrechts wie z.B. die Zurechnung des Verhaltens von Erfüllungsgehilfen kam es nicht an. Nach deutscher ständiger Rechtsprechung reicht es für die Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten aus, „diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.“[5] Der erforderlichen Sorgfalt ist folglich genügt, „wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält.“[6]  Für die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten kommen zwei Ansatzpunkte in Betracht. Zum einen könnte man als Sicherheitsvorkehrung einen Warnhinweis von McDonalds erwarten. Da ein solcher jedoch auf den Bechern aufgedruckt war, kann dieser Ansatzpunkt nur in Kombination mit dem zweiten relevant sein, nämlich einer möglicherweise zu heißen Temperatur des Kaffees. Die Anwälte von Fr. Liebeck argumentierten, dass bereits die Serviertemperatur des Kaffees (82–88 °C) zu hoch gewesen sei. Kaffee dürfe aus Sicherheitsgründen niemals heißer als 60 °C serviert werden bzw. der Warnhinweis auf den Bechern hätte deutlicher sein müssen. Zum Vergleich: die Brühtemperatur von Kaffee beträgt zwischen 86°C und 96°C.[7] Die durchschnittliche Serviertemperatur in der deutschen Gastronomie beträgt 75°C und die durchschnittlich beliebteste Trinktemperatur liegt nur zwischen 60°C und 70°C.[8] McDonalds rechtfertigte die hohe Serviertemperatur damit, den Kaffee to go möglichst lange warmhalten zu wollen. Bei einer Ausgangstemperatur von z.B. 79°C dauert die Abkühlung auf 65°C in einer Porzellantasse 7 Minuten; in Coffee-To-Go-Bechern dagegen bereits 22 Minuten.[9] Der Kaffee am Drive-Through-Fenster sei deshalb darauf ausgelegt, auch noch nach Beendigung der anschließenden Autofahrt warm zu sein. Andererseits zeigte sich im Prozess, dass viele Autofahrer den Kaffee bereits unmittelbar nach Ausgabe und während der Fahrt konsumieren. Der Unfall von Fr. Liebeck scheint außerdem kein ungewöhnlicher Einzelfall gewesen zu sein. Zwischen 1982 und 1992 sind mehr als 700 Fälle von Verbrennungen durch McDonalds Kaffee publik geworden.[10]

Verhalten des Schädigers vs. Verhalten des Geschädigten

Vor dem Hintergrund dieser Informationen ist eine Abwägung zwischen der Gefährlichkeit des Verhaltens, den Vorteilen und der im Lebensbereich herrschenden Verkehrsauffassung vorzunehmen. Die Frage ist, ob der Geschädigte bloß ein „Unglück“ erlitten hat oder ob dem Schädiger wirklich ein „Unrecht“ vorgehalten werden kann.[11] Bei der Gefährlichkeit des Verhaltens sind dabei die Höhe des Schadens und der Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Je schwerwiegender z.B. die drohenden Schäden sind, desto größerer Vermeidungsaufwand muss betrieben werden, auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist. Neben diesen Pflichten auf Seiten des Schädigers sind reziprok jedoch auch die Sorgfaltsanforderungen des Geschädigten von Bedeutung. Der ausschlaggebende Punkt ist nämlich, dass die Verhaltensanforderungen an die eine Seite nur mit Blick auf das zu erwartende Verhalten der anderen Seite bestimmt werden kann.[12] Das Verhalten des Schädigers und des Geschädigten sind dadurch untrennbar miteinander verknüpft. Beide Parteien müssen die jeweils zumutbaren Anstrengungen unternehmen, einen Schadenseintritt zu verhindern.

Aus deutscher Sicht ließe sich argumentieren, dass die Hauptverantwortlichkeit für den sorgfältigen Umgang mit heißen Getränken zweifellos beim Konsumenten liegt. Diesem ist nach allgemeiner Lebenserfahrung bewusst, mit heißen Getränken besonders vorsichtig umzugehen, weil infolge der engen Verhältnisse im Auto eine erhöhte Gefahr des Verschüttens besteht. Zur sicheren Ablage von Kaffeebechern weisen Autos daher in der Regel Becherhalter oder Aussparungen in der Mittelkonsole auf. Eine Mitverantwortlichkeit von McDonalds wegen einer zu hohen Serviertemperatur hätte dagegen allenfalls untergeordnete Bedeutung. Man könnte mit gutem Grund eine Mitverantwortlichkeit sogar gänzlich ablehnen. Die Argumentation von Fr. Liebecks Anwälten läuft nämlich darauf hinaus, das Anbieten von Kaffee oberhalb einer bestimmten Temperatur per se für sorgfaltswidrig zu erklären. Das führt dazu, dass es nicht mehr um zumutbare Sicherheitsvorkehrungen geht, sondern um die Untersagung der Gefahr als solcher. Eine solche indirekte Normbildung über das Deliktsrecht muss jedoch für Extremfälle wie z.B. über 100°C heißen Kaffee vorbehalten bleiben. Die vollständige Untersagung des gefährlichen Verhaltens stellt den schärfsten Eingriff in die letztlich grundrechtlich geschützten Freiheiten des Schädigers dar und negiert a priori jegliche Eigenverantwortung des Geschädigten. Das Prinzip von Verkehrssicherungspflichten wäre ad absurdum geführt, würde es nur noch dazu dienen, den Kunden vor sich selbst zu schützen. Auf der anderen Seite ist nicht von der Hand zu weisen, dass anscheinend weiterhin Kundennachfrage nach (sehr) heißem Kaffee besteht. Bis heute hat McDonalds seine Serviertemperatur nicht reduziert. Das zeigt, dass heißer Kaffee to go zweifellos gefährlich ist, aber verkehrsüblich und sozial akzeptiert. Solange deutlich genug gewarnt wird, sollte die heiße Temperatur allein deshalb keine Sorgfaltswidrigkeit begründen können.

Die Jury sah dies anders und entschied, dass McDonalds zu 80% und Fr. Liebeck zu 20% für den Vorfall verantwortlich sei.

Compensatory Damages

Die größten Unterschiede zum deutschen Schadensersatzrecht finden sich auf Ebene der Haftungsausfüllung. Hier wurden Fr. Liebeck zunächst 200.000 USD Compensatory Damages zugesprochen, welche sodann um den Mitverschuldensanteil auf 160.000 USD reduziert wurden. Compensatory Damages haben wie in Deutschland den Ersatz von Heilbehandlungskosten zum Gegenstand sowie Schmerzensgeld für „pain and suffering“. Keine Besonderheiten zwischen den Rechtsordnungen bestehen, wenn das Schmerzensgeld grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, vgl. § 253 Abs. 2 BGB, § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO. Das deutsche Recht spricht von einer „billigen Entschädigung“ in Geld. Billigkeit meint dabei die Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Falles wie z.B. Dauer, Art und Schwere der Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Trotz dieser prinzipiellen Flexibilität in der Bemessung hat sich in der deutschen Rechtspraxis die Verwendung von Schmerzensgeldtabellen etabliert. Diesen lässt sich entnehmen, in welcher Höhe Schmerzensgeld in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochen wurde. Für den Fall von Fr. Liebeck würden sich hier zwei Entscheidungen finden, in denen es ebenfalls um Verbrennungen dritten Grades im Oberschenkelbereich ging: Das OLG Koblenz sprach dem Geschädigten ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.564,59 EUR für Verbrennungen von 28% der Körperoberfläche zu.[13] Für ähnliche Verbrennungen von 10% der Körperoberfläche erhielt der Geschädigte in einem Fall vor dem OLG Jena 15.000,00 EUR.[14] Fr. Liebeck erlitt Verbrennungen von 16% der Körperoberfläche, sodass sich der Schmerzensgeldbetrag in Deutschland wohl in diesem Rahmen bewegen würde. Zum Vergleich: da sich die tatsächlichen Behandlungskosten von Fr. Liebeck zwischen 10.000 und 20.000 USD bewegten, lag der Schmerzensgeldbetrag auch nach Abzug des Mitverschuldensanteils bei über 100.000 USD. Während die amerikanischen Beträge häufig zu hoch erscheinen, erscheinen die deutschen Beträge oft zu niedrig. Ein Extrembeispiel hierfür ist ein Fall, der zu ungefähr gleicher Zeit wie der Fall von Fr. Liebeck vom Landgericht Heilbronn entschieden wurde: Eine Frau, die über die Dauer von vier Stunden etwa zwanzigmal u.a. anal vergewaltigt wurde, erhielt ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 DM.[15] Ähnlich krass erscheint ein Fall des Oberlandesgericht Hamm von 2008: Ein Vater missbrauchte seine behinderte Tochter sexuell. Die Tochter wurde vom Vater schwanger. Trotz der Tatsache, dass sie sogar das Kind gebar, erhielt sie nur ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 EUR.[16] Hierzulande besteht im Vergleich mit amerikanischen Schmerzensgeldsummen m.E. ein Bedürfnis nach einer Anhebung der Schmerzensgeldansprüche. Es erscheint unangemessen, dass die von der deutschen Rechtsprechung zugesprochenen Schmerzensgeldansprüche in Summe zumeist hinter den Listenpreisen von Kleinwägen zurückbleiben und selbst in schweren Fällen jene nur unwesentlich überschreiten.

Ersatz der Heilbehandlungskosten

Der Ersatz der Heilbehandlungskosten spielt für den Geschädigten in Deutschland aufgrund des Systems der gesetzlichen Krankenkassen meist eine eher untergeordnete Rolle. Die Krankenkassen können gem. § 116 SGB X beim Schädiger Regress nehmen, sodass der Geschädigte neben dem Schmerzensgeld nur solche Kosten geltend macht, die die gesetzlichen Krankenkassen nicht übernehmen. In den Vereinigten Staaten sind dank des Affordable Care Acts, auch bekannt als „Obamacare“, nur noch ca. 8% der Bevölkerung überhaupt nicht versichert.[17] Mit sog. Subrogation-Klauseln (Forderungsübergang) besteht häufig ein ähnliches Regresssystem wie bei § 116 SGB X. Die Heilbehandlungskosten spielen allerdings deshalb in den USA eine tendenziell größere Rolle, weil sie vergleichsweise hoch sind und meist vom Geschädigten unmittelbar vor Ort beglichen werden müssen. Für Schlagzeilen sorgte während der Corona-Pandemie das Beispiel eines Mannes aus Seattle, dem für die Behandlung auf der Intensivstation 1,1 Millionen USD in Rechnung gestellt wurden.[18] Am einfachen Beispiel einer Pleurapunktion zeigen sich eklatante Kostenunterschiede zwischen Deutschland und den USA: Zur Linderung akuter Atemnot wird bei der Pleurapunktion nach einer Lokalanästhesie eine dünne Nadel in den Spaltraum zwischen Rippenfell und Lungenfell gestochen, um angestaute Flüssigkeit abzusaugen und Druck abzubauen. Die gesamte Prozedur dauert ungefähr 20 Minuten. In Deutschland kostete eine solche Maßnahme 2015 nach der Gebührenordnung 112 EUR. In den USA dagegen wurden mindestens 400 USD veranschlagt. Aufgrund diverser zusätzlicher Gebühren scheinen sogar Rechnungen in Höhe von um die 1.000 USD nicht unüblich zu sein.[19] Erklären lassen sich diese Unterschiede nicht nur mit einem höheren Lohnniveau von Ärzten und Krankenschwestern in den USA. Die Ursache liegt vielmehr in der grundsätzlichen Ökonomisierung der Gesundheit. Die Gesundheitsversicherungen handeln die Preise mit Krankenhäusern weitgehend frei aus. Patienten, die ein sog. Out-of-Network-Krankenhaus besuchen, mit dem die eigene Versicherung keinen Festpreis ausgehandelt hat, haben wesentlich höhere Preise zu zahlen und bekommen zumeist nur einen Teil dieser Kosten von der eigenen Versicherung erstattet.[20] Krankenhäuser können daher „externe Patienten“ und medizinische Notlagen de facto frei nach Angebot und Nachfrage ausnutzen. Hinzu kommen weitere Faktoren wie etwa die ökonomisch mächtige US-Pharmabranche, die große Preissetzungsmacht für Medikamente genießt. Die hohen Compensatory Damages lassen sich im Ergebnis mehr auf gesellschaftliche Unterschiede und weniger auf rechtliche zurückführen.

Punitive Damages

In rechtlicher Hinsicht sind es die Punitive Damages, die die deutsche Öffentlichkeit oft in Staunen versetzen. Um eine besonders hohe Schadenssumme ging es jüngst im Alex Jones case. Der Radiomoderator und Medienunternehmer Alex Jones, der als Anhänger von Verschwörungstheorien gilt, hatte behauptet, der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School 2012 sei von der Obama-Regierung inszeniert worden, um das Recht auf Waffenbesitz einzuschränken. Die Angehörigen der 28 Opfer nahmen Jones auf Schadensersatz wegen „defamation“, also Verleumdung, in Anspruch. Die Familien bekamen Recht und in mehreren Verfahren zusammen bisher über 900 Millionen USD Schadensersatz zugesprochen.[21] Da die Urteile noch nicht rechtskräftig sind, bleibt abzuwarten, wie hoch der von Jones zu zahlende Betrag am Ende tatsächlich ausfallen wird. Im Liebeck v. McDonalds Hot Coffee Case sprach die Jury in erster Instanz den berüchtigten Betrag von 2,7 Millionen USD Punitive Damages aus. Zugrunde gelegt wurde eine Berechnung, wonach McDonald’s damals einen täglichen Umsatz von 1,35 Millionen USD mit dem Verkauf von Kaffee generiert hat. Ein zweifacher Tagessatz, sozusagen, erschien der Jury, welche typischerweise aus 12 Laienrichtern besteht, angemessen. Wie bereits der Begriff „punitive“ suggeriert, verfolgt der Schadensersatz nicht mehr nur kompensatorische, sondern auch pönale Zwecke. Der übersetzte Begriff des „Strafschadensersatzes“ löst beim deutschen Dogmatiker Unbehagen aus, weil er die Grenze zwischen Strafe und Schadensersatz verwischt. Nach deutschem Verständnis sind im Zivilrecht Strafe und Schadensersatz dadurch voneinander zu unterscheiden, dass eine Strafe extrakompensatorisch ist und teleologisch die Bestrafung des Täters zum Ziel hat.[22] Den §§ 249 ff. BGB wird dagegen lediglich Ausgleichsfunktion beigemessen. Bestrafung sei Aufgabe des öffentlichen Rechts, insbesondere des Strafrechts. Nach dieser Abgrenzung lassen sich die Punitive Damages dem Bereich der Strafe zuordnen und so zumindest in Deutschland als dem Zivilrecht wesensfremd klar ablehnen.[23]

Funktionen von Schadensersatz im deutschen und US-amerikanischen Recht

Man macht es sich mit diesem diametralen Verständnis aber sehr leicht, wenn man die Funktion von Schadensersatz ausschließlich im materiellen Ausgleich sehen will. Beiden Rechtsordnungen liegt nämlich zunächst das allgemeine Prinzip „neminem laedere“, niemanden schädigen, zugrunde, aus dem sich über die Ausgleichsfunktion hinaus zahlreiche weitere Facetten gewinnen lassen. Anerkannt ist z.B. auch im deutschen Recht die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgelds, obgleich sie von der Literatur durchaus kritisch gesehen wird.[24] Jedenfalls besteht Konsens darüber, dass die Ausgleichsfunktion bei Schmerzen als immateriellen Schäden alleine nicht weiterführt. Eine weitere Funktion von Schadensersatz kann Prävention sein. Die Spezialprävention soll den Schädiger davon abhalten, das rechtswidrige Verhalten zu wiederholen; die Generalprävention auch die Allgemeinheit. Insbesondere bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen rekurriert der BGH explizit auf Präventionsgesichtspunkte. Die Geldentschädigung für eine zu Unrecht in der Presse abgebildete bekannte Person soll gerade dazu dienen, einen „echten Hemmeffekt für eine rücksichtslose Vermarktung der Persönlichkeit“ zu haben.[25] Freilich können Strafen eine abschreckende Wirkung nur für den vorsätzlich handelnden Täter haben. Die amerikanische Gerichtspraxis ist deswegen mit der Zuerkennung von Punitive Damages wesentlich zurückhaltender, als es einige medienwirksame Prozesse suggerieren. In Urteilen nach Haftungsklagen werden Punitive Damages nur in ca. 3-5% aller Fälle ausgesprochen.[26] In einigen Staaten wie z.B. Washington sind Punitive Damages sogar grundsätzlich nicht anerkannt.

Remittitur Verfahren

Darüber hinaus besteht mit „Remittitur“ ein Rechtsinstitut im Common Law, welches die Schärfe von Punitive Damages oft mildert: Ein Richter kann die von einer Jury zuerkannte Schadenssumme reduzieren, wenn sie „excessive“ erscheint. (Das umgekehrte Verfahren von „Additur“, das dem Richter eine Erhöhung der Schadenssumme erlaubt, scheint praktisch nur selten vorzukommen.) In der Literatur findet sich eine lebhafte Diskussion darüber, um welches Vielfaches die Punitive Damages die Compensatory Damages übersteigen müssen, damit erstere als „excessive“ anzusehen sind.[27] Im Liebeck v. McDonalds Hot Coffee Case reduzierte der Richter in erster Instanz die Punitive Damages auf das Dreifache der Compensatory Damages. Das Urteil bestand also in 160.000 USD Compensatory Damages zzgl. 480.000 USD Punitive Damages; letztlich weniger als ein Viertel der 2,7 Millionen USD.

„Klage-Industrie“ durch private Rechtsdurchsetzung?

Der aus deutscher Sicht immer noch hohe Betrag, lässt sich aus amerikanischer Sicht aus einem weiteren Grund rechtfertigen. Die hohen Schadenssummen sollen einen Anreiz für den Einzelnen darstellen, gegen rechtswidriges Verhalten vorzugehen und dieses im Interesse der Allgemeinheit zu ahnden. Es handelt sich hierbei um eine Argumentation, welche sich im Bild des sog. private attorney general niedergeschlagen hat.[28] Private Akteure sollen nicht nur über das öffentliche Recht wie bspw. durch ein Ordnungsamt kontrolliert werden, sondern mittelbar auch über das Privatrecht. Der Kläger, der im Eigeninteresse seine subjektiven Rechte geltend macht, verteidigt damit auch objektiv die Rechtsordnung. Dass hieran auch Rechtsanwälte fürstlich verdienen, ist dank sog. contingency fees, also Erfolgshonoraren, anerkannt und gewollt. Die Folge dieses Konzepts ist die Herausbildung einer regelrechten „Klage-Industrie”, welche sich – gesteuert durch monetäre Anreize – auf Verbraucherklagen spezialisiert hat. Gegen diese Anreizfunktion lassen sich letztlich nur Billigkeitserwägungen ins Feld führen: Warum soll zufällig Fr. Liebeck als einzelne Person davon profitieren, dass McDonald’s seinen Kaffee Millionen von Kunden möglicherweise zu heiß anbietet? Ein deutscher Jurist würde wohl ein Störgefühl haben, wenn ein erlittenes Unrecht aus Sicht des Betroffenen zum Lottogewinn wird. Ob dieses Gefühl berechtigt ist, ist letzten Endes eine rechtspolitische Frage.

Fazit

Den wahren Ausgang des Liebeck v. McDonalds Hot Coffee Case wird die Öffentlichkeit wohl auf absehbare Zeit nicht erfahren. Vor der Einlegung von Rechtsmitteln haben sich Fr. Liebeck und McDonald’s außergerichtlich geeinigt. Der tatsächliche sog. Settlement-Betrag wird wohl unter den zugesprochenen 640.000 USD liegen, aber deutlich über den 800 USD, die McDonald’s Fr. Liebeck ursprünglich als Settlement angeboten hat. Nichtsdestotrotz zeigt das erstinstanzliche Verfahren besonders anschaulich die Gegensätze zwischen der amerikanischen und deutschen Rechts- und Streitkultur auf: Einerseits werden in der USA ökonomische Interessen wohl mit am vehementesten verteidigt, andererseits ist der Verantwortungsmaßstab der eines wesentlich unmündigeren Menschen im Vergleich zu Deutschland. Einerseits ist jeder einzelne für seine Gesundheit in erster Linie selbst verantwortlich, andererseits verfolgt das Schadensersatzrecht Ziele des Allgemeininteresses. Dass ein Rechtssystem „besser“ oder „schlechter“ als ein anderes ist, lässt sich nicht allgemeingültig sagen. Was sich allerdings sagen lässt, ist, dass nicht bezifferbare Schäden wie der Verlust an Zeit und Lebensqualität beim Betroffenen unabhängig von der Schadenssumme nie vollständig kompensiert werden können. Das Recht bleibt stets ein unvollkommener Versuch, schicksalshafte Lebenswendungen ungeschehen zu machen. Fr. Liebeck wurde in den letzten Jahren ihres Lebens von der Aufmerksamkeit und dem Prozess so mitgenommen, dass der gesamte erhaltene Betrag für intensive häusliche Pflege aufgewendet werden musste. Sie verstarb im Alter von 91 Jahren nach Angaben der Tochter „with no quality of life.“

Der Autor: 

Vincent M. Kästle ist Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt.

Responsible Editor: 

Isabel Cagala, TLB Co-Editor-in-Chief

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[1] https://www.nbcnews.com/id/wbna18471265 (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[2] https://ihsvoice.com/2015/12/30/christopher-roller-v-david-copperfield (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[3] https://news.bloomberglaw.com/us-law-week/67-million-suit-over-lost-pants-gets-former-judge-suspended (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[4] Stella Liebeck v. McDonald’s Restaurants, P.T.S., Inc. and McDonald’s International, Inc., 1994 Extra LEXIS 23, Bernalillo County, N.M. Dist. Ct. 1994, 1995 WL 360309, Bernalillo County, N.M. Dist. Ct. 1994.

[5] StRspr. BGHZ 195, 30 Rn. 6 = NJW 2013, 48 = VersR 2012, 1528; BGH VersR 2014, 642 Rn. 9 = NJW 2014, 2104.

[6] StRspr. BGHZ 195, 30 Rn. 7 = NJW 2013, 48 = VersR 2012, 1528; BGH VersR 2014, 642 Rn. 9 = NJW 2014, 2104.

[7] https://www.coffee-perfect.de/kaffeewissen/temperatur-kaffeetrinken.html#:~:text=Die%20optimale%20Br%C3%BChtemperatur%20f%C3%BCr%20Kaffee,67%C2%B0C.; https://www.kaffeetechnik-shop.de/kaffeejournal/bei-welcher-temperatur-schmeckt-der-kaffee-am-besten/ (beide zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[8] Verst/Winkler/Lachenmeier, Dispensing and serving temperatures of coffee-based hot beverages. Exploratory survey as a basis for cancer risk assessment, in: Ernaehrungs Umschau international 2018, 64–70, abrufbar unter: https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2018/04_18/EU04_2018_WuF_Lachm_E_SK2.pdf (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[9] AaO.

[10] Gerlin, A Matter of Degree: How a Jury Decided That a Coffee Spill Is Worth $2.9 Million, in: The Wall Street Journal 1994, abrufbar unter: https://web.archive.org/web/20150923195353/http://www.business.txstate.edu/users/ds26/Business%20Law%202361/Misc/McDonalds%20coffee.pdf (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[11] Vgl. BGH VersR 2014, 78 Rn. 15; VersR 2014, 642 Rn. 9 = NJW 2014, 2104.

[12] MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, BGB § 823 Rn. 475 ff.

[13] OLG Koblenz Urteil vom 11.1.2000 – 1 U 1452/97, BeckRS 2000, 30089908.

[14] OLG Jena Urteil vom 23.10.2007 – 5 U 146/06, BeckRS 2008, 2136.

[15] LG Heilbronn, 6 O 239/83 zit. nach Rosengarten, NJW 1996, 1935, 1936 Fn. 16.

[16] OLG Hamm Urteil vom 27.5.2008 – 9 W 11/08, BeckRS 2008, 20348.

[17] https://www.pgpf.org/blog/2022/11/nearly-30-million-americans-have-no-health-insurance#:~:text=In%202021%2C%20as%20the%20coronavirus,report%20from%20the%20Census%20Bureau. (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[18] https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/jun/16/coronavirus-hospital-bill-healthcare-america (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[19] https://www.aerzteblatt.de/blog/83431/Was-kostet-eine-aerztliche-Injektion; https://www.klinikkompass.com/medizinische-behandlungskosten-in-den-u-s-a-und-deutschland/ (beide zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[20] https://aerztezeitung.at/2020/oaz-artikel/politik/albtraum-fuer-us-amerikaner/ (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[21] https://www.reuters.com/legal/jury-begins-third-day-deliberations-alex-jones-sandy-hook-defamation-trial-2022-10-12/ (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).

[22] Brockmeier, Punitive Damages, multiple damages und deutscher ordre public, Tübingen, 1999, 21.

[23] Vgl. vertiefend BGHZ 118, 312, 334 ff. = NJW 1992, 3096 m.w.N.; BVerfGE 91, 335, 343 ff. = NJW 1995, 649; BVerfGE 108, 238, 247 = NJW 2003, 2598; BVerfG NJW 2013, 990, 991.

[24] BeckOK BGB/Spindler, 63. Ed. 1.8.2022, BGB § 253 Rn. 16.

[25] BGHZ 128, 1, 16NJW 1995, 861, 865 – Caroline von Monaco I; BGH NJW 1996, 984, 985 – Caroline von Monaco II.

[26] https://www.law.cornell.edu/wex/punitive_damages (zuletzt abgerufen am 29.11.2022); siehe auch Laycock, Modern American Remedies, Aspen 2002, 732–736.

[27] Beispielhaft Cuevas v. Wentworth Group, 226 N.J. 480, 2016.

[28] Ausführlich hierzu Rubenstein, On What A “Private Attorney General” Is–And Why It Matters, in: Vanderbilt Law Review 2004, 2129 ff., abrufbar unter: https://scholarship.law.vanderbilt.edu/vlr/vol57/iss6/3 (zuletzt abgerufen am 29.11.2022).